„Denn jeder, der ins Theater geht, …“

 Zu einem ganz besonderen Jubiläum hatte der Literaturkurs der Stufe Q2 am Donnerstag und Freitag in die Aula geladen. Die 100. und 101. Aufführung unter der etwa dreißigjährigen Ägide Helmut Garritzmanns standen auf dem Programm, und passenderweise hatte sich der Jubilar zum Abschied ein Stück über das Theatermachen ausgesucht, nämlich „Der Hexenmeiser“ des Berliner Lehrers und Autors Matthias Weißert, Jahrgang 1932.

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Irgendwo in einer kleinen Stadt, irgendwann nicht lange vor unserer Zeit: Eine kleine Schauspielertruppe studiert ein neues Stück ein und gerät in Streit wegen der miserablen Zuschauerzahlen. „Wofür Texte lernen, wenn man doch vor leerem Haus spielt!“, beklagt sich ein Akteur bei seinem Direktor. Bereits hier klingt an, was sich durch das gesamte Stück ziehen wird: Was kann Kunst – hier die Schauspielkunst – ausrichten gegen und angesichts kommerzieller Zwänge? Welche Kompromisse darf Kunst eingehen? Denn: „Ist das Stück auch noch so schön, trotzdem will es keiner sehn!“ Die Schauspieler loten die Bedingungen des Theatermachens aus, auch dazu dient das Stück im Stück. Das zweite Anliegen ist ein durch und durch aufklärerisches: Naivität und Klatschsucht, Dummheit und Stumpfsinn werden dem Ensemble auf der Bühne beinahe zum Verhängnis. Die Szene aus „Doctor Faustus“ (lange vor Goethe vielfach umgestalteter Dramenstoff des ausgehenden 16. und frühen 17. Jahrhunderts), in der der Direktor mit Zauberkreis und Beschwörungsformeln den Teufel herbeirufen will, wird von vier törichten Jungfrauen (Victoria Hutsch, Elena Schlimgen, Anna Faber, Jil Pesch) beobachtet und so gründlich missverstanden, dass fürderhin die Angst vor dem Leibhaftigen das Denken und Handeln des Ortes bestimmt. Übertragen wird die aufziehende Hysterie auch auf andere gänzlich harmlose Menschen, „Fremde“, deren Fremdheit schon das Misstrauen der Einheimischen weckt. Dem armen Theaterdirektor, finanziell durch die buchstäblich brotlose Kunst gebeutelt, bleibt gar nichts anderes mehr übrig als die nun zahllos an ihn herangetragenen Bitten um Schadens- und Liebeszauber zu „erfüllen“ – gegen Bares, versteht sich. Und so wandelt sich der idealistische Theatermacher zum zynischen Geschäftsmann, der mit der Dummheit und Gutgläubigkeit seine Geschäfte macht. Mitleid muss man darum mit den Kleinstädtern nicht haben, denn sie glauben genau das, was sie sehen und glauben wollen. Eher zeigt das Stück recht genau die scheinbar unausrottbaren menschlichen Tugenden des Stumpfsinns und des starren Festhaltens am Althergebrachten.

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Bewundernswert präzise und äußerst kurzweilig agieren die jungen Schauspielerinnen und Schauspieler, denen ihr „Hexenmeister“ Helmut Garritzmann das Stück je auf den Leib geschneidert hat (sollte die schwarze Weste des Schauspieldirektors Leander, dargestellt von Yannick Borkens, etwa nicht den Jubilar zitieren??), und der alte Theaterfuchs hat zum Abschied herrliche Bilder auf der Bühne entstehen lassen, Miniaturen, die auch ohne umrahmende Handlung Bestand hätten: Wenn etwa Jean de France (Özgür Saglam), nach mehrjährigem Aufenthalt in „Parrih“ nur noch mit sehr viel „Akßong“ spricht und von zwei bauernschlauen Schülerinnen (Sanja Baumann, Sissy Schneider) mangels Ortskenntnis mit einem roten Vorhang zugedeckt, auf einen Rollstuhl gesetzt und langsam Richtung Hotel zur Post von der Bühne geschoben wird, dann sind das Kompositionen, die die Fantasie und Imagination Garritzmanns bezeugen. Der von Leander abgefeuerte Schuss aus der Schreckschusspistole, der die beiden tumben Stadtsoldaten (Riccardo LaDelfa und Valeria Kaschade) und ihren Anführer (Marvin Rasselnberg) zur Strecke bringt, als diese das verdächtige Subjekt verhaften wollen, ist ein herrlicher und fast wehmütiger Kommentar zur Rolle der Kunst und ihren Wirkungsmöglichkeiten in der „realen“ Welt. Diese reale Welt ist bevölkert von Menschen, die sich freiwillig Uniformen anziehen und sich Helme auf den Kopf setzen; aus welchem Grund sie in den Kampf ziehen, ist letztlich fast egal. Diese Uniformen niedergestreckt zu sehen von der Illusion einer Waffe, von der Illusion als Waffe, das war schon ein – noch dazu präzise gespielter – Spaß. Mulmig und assoziationsreich bleibt der  schwarze Ledermantel und die hohe, dunkle Schirmmütze des Unteroffiziers. „Bei uns spricht man Deutsch, wenn man nichts zu verbergen hat!“, bekommt Leander Bescheid. Das wird man ja wohl noch sagen dürfen, nicht wahr, Herr Sarrazin?

 „… mit einem Bein schon in der Hölle steht!“

 Am Ende klärt sich alles auf, das Gericht lässt sich vom Gerücht nicht beeindrucken und spricht den Angeklagten frei. Ensemble und künstlerischer Leiter bekommen verdienten und lang andauernden Applaus des Publikums, das sich auch aus vielen Ehemaligen – Schülerinnen und Schülern wie Kollegen – zusammensetzt, die Garritzmanns Abschiedsvorstellungen nicht verpassen wollten. Zunächst aber bekommt jeder Akteur von ihm eine Rose, ein Ritual, das man hier schmerzlich vermissen wird, denn so ehrt der Jubilar „seine“ Schauspieler, die Schülerinnen und Schüler, die sich wochenlang zusammengerauft haben, geprobt, gelitten, gespielt. Viele waren darunter, die bereits selbst mit ihm auf der Bühne gestanden hatten. Bärbel Zettner und Stefanie Hecke für den Lehrerrat gaben fleißig Attribute zum Besten; dass der Zuschauer den Verdacht hatte, hier ginge es nicht nur um die Wertung des Stücks, sondern auch um die des Jubilars UND guten Weines („feurig“, „reif im Abgang“) – honi soit qui mal y pense.

Dann sorgten zwei Kollegen auf der Bühne, Traudel Roeben, erst vor wenigen Monaten pensioniert, und Hans Werner Wolff, mit der Ankündigung, die Ehemaligen hätten freie Getränke gestiftet, erneut für Furore. Roeben erinnerte zudem an Probenfahrten des Kollegiums in die Eifel und nach Hopsten, die bisweilen mit Blessuren endeten. Marvin Rasselnberg würdigte den Jubilar mit schönen Worten; der gesamte Literaturkurs hatte bereits eine Laudatio auf Garritzmann dem Programmheft des Stücks beigelegt. Der Geehrte selbst beließ es bei einer sehr kurzen Danksagung. Umso deutlicher der Hinweis auf die Aula des BvA, die er ein Kleinod nannte, von dem er hoffe, dass die Schule sich dieses Reichtums bewusst bleiben möge. Wovon der Schauspieler lebt? Voila: „Ihr Applaus ist unsere Nahrung!“, auch er bekam dann aber doch einen trockenen Mund und bat zum Getränkebüfett.

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Was hat das Publikum gesehen? Den Abgang eines Theaterbegeisterten, der stur an seiner Auffassung festhält, dass nur die Kunst den Menschen zeigen kann, wie die Welt funktioniert. So etwas lernt man nicht in den Naturwissenschaften, so etwas lernt man nicht im Bankensektor oder in der Industrie. Hier hat jemand, jedenfalls vorübergehend, die Bretter, die eben die Welt bedeuten, verlassen. Er mag die Illusion nicht aufgeben, dass das Theater dem Menschen zeigt, welches Leben möglich ist, nämlich ein höheres, besseres, geistvolleres, kultivierteres.

 Bernhard Schieren, der vormalige Schulleiter, ließ es sich nicht nehmen, nach dem Vorhang zur Bühne zu eilen um dem Jubilar ein Portrait Bettina von Arnims zu überreichen. Das Theater, die Kunst, das Musische müssen ihren Platz an unserer Schule behaupten, mag er sich gedacht haben.

 In den nächsten Tagen feiern wir den 450. Geburtstag von William Shakespeare.

 Lars Kraegeloh

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