Basisartikel Theater

THEATER muss sein!“, warben eine lange Zeit die Bühnenvereine und Schauspielhäuser um die Aufmerksamkeit und Gunst eines Publikums, das ihnen vollends von der Fahne zu gehen drohte und den Theaterhäusern so fern blieb wie der eingeschworene Junggeselle den Tanztees. Großes Theater – das war oder schien doch zumindest: rauschende Abendgarderobe und nach Mottenkugeln ausdünstende dunkle Anzüge, gedämpftes Stimmengewirr im Foyer und wichtigtuerisches Geraune in den Logen; große, überzogen und affektiert wirkende Gesten auf der Bühne, Gehabe und Getu auch bei den Affirmativen im Publikum; das mit gespreizten Fingern gefasste Sektglas in den Pausen, dazu kleine Lachsschnitt(ch)en, Käsehappen am farbigen Plastikspieß und wieder das unvermeidliche Raunen feuilletonistischen Vokabulars; Lichtkaskaden und Spiel im Schatten; Konflikte und Katastrophen, unfreiwillige Komik und Klamauk; Wortendlosschleifen und endlos lange Zeiten des Zusehens, ohne dass sich auf der Bühne etwas ereignete.

Wer tut sich das freiwillig an, diese in eigens dafür gebauten Kultstätten realisierten „Überbauphänomene“, die der Wirklichkeit enthoben, fern und dünkelhaft wirken? Die Kunsttempel genau so gut wie die dort stattfindenden Kultszenarien. Weltfernes Kulturgedöns unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Ob im klassizistischen Nationaltheater, in der biedermeierlichen Volksbühne oder im nüchtern gestylten Nachkriegszweckbau.

Die seit nunmehr zwei Jahren obligat gewordenen Theaterpflichtveranstaltungen zu „Emilia Galotti“, die als Folge des Zentralabiturs auch den Theaterhäusern wieder unwillig erscheinende Schülerhorden der Jahrgangsstufe 12 landesweit bescheren, die man ihnen wie einer Hetäre zuführt – sind die geeignet, das Image der öffentlichen und privaten Theater aufzupolieren und das Theater wieder in die Nähe potentieller Abnehmer zu rücken?

Und dieses Theater müsste sein? Was könnte uns zu diesem Theater verführen?

Jetzt mach kein Theater!“, herrscht der Vater den Sohn, die Mutter die Tochter an – sie: beleidigt, dass sie nicht in ihrem bauchfreien Top und im aufreizenden Outfit zum Besuch bei Oma, die solche Kostümierung immer immens aufregt, gehen können soll; er: pampig ob des Drängens der „Alten“, schon wieder in Familie machen zu müssen. „Ständig fällst du aus der Rolle!“ – Alltagstheater! Wer von uns kennte diese täglichen Schauspiele nicht, darunter viel Komisches, aber auch herzerweichende Tragödien. Hier finden sich Rollensätze, die kein Autor schrieb, und Dramatisches, das kein Regisseur in Szene setzte. Und da herrscht ganz viel Spiel in und hinter und vor den Kulissen. Vieles davon ist um Längen besser als das, was die Fernsehsender in den daily soaps anbieten. Und leider wird in Imitation des dort Gesehenen auch das Alltagstheater immer banaler und unerträglicher.

„All the world’s a stage“, wusste schon William Shakespeare und kam damit den großen Theoretikern der Sozialwissenschaft zuvor, die in ihren Rollentheorien den Menschen in einem klug ausgeheckten Mummenschanz oder in plump angezettelter Maskerade verstehen und seine Lebensverhältnisse als kompliziertes Rollensystem erklären. Von Kind auf lernen wir die Welt beherrschen als eine Welt des Theaters, der Verstellung und Kostümierung: in der Rolle des Mädchens oder des Jungen, von Mann und Frau, Vater und Mutter, Bruder, Schwester, Schüler, Arbeitgeber und Arbeitnehmer und schließlich als Oma und Opa. Notfalls schminken wir uns, tun so als ob und tragen derb auf. Und von diesem anstrengenden Rollenspiel erholen wir uns, indem wir zu Karneval wer ganz anders sind und im Kostüm des Hanswurst die Sau machen. Und das ist alles so selbstverständlich. Was muss ich ins Theater gehen, ich habe meine tägliche Vorstellung auch so, mit und ohne Applaus.

„Der Mensch ist nur dort Mensch, wo er spielt“, konkretisierte Friedrich Schiller und erhob das Spielen, auch das Theaterspielen, zu einem menschlichen Wesenszug, etwas, ohne das der Mensch nicht Mensch werden und sein kann: conditio sine qua non. Das Leben als Experiment auf der Bühne der Welt – die Wirklichkeit als Bretter, die die Welt bedeuten. Hier dient, wie so oft, die Bildhaftigkeit des Instruments Bühne, die antritt, das Leben verstehbar und durchschaubar zu machen, als Metapher zur Erläuterung von Sinnhaftem in der Wirklichkeit.

„Das spielt doch keine Rolle.“ – Wo beginnt, wo endet diese Bühne, sind wir nicht immer im Scheinwerferlicht? Spieler und Zuschauer in einem und immer alles zugleich?

Mach mal Theater!“ Bewusst ruft seit langem die Landes-Arbeitsgemeinschaft Spiel mit diesem Satz die Theatergruppen im Land zur Teilnahme an einem Landes-Wettbewerb auf, bei dem herausragende Schulinszenierungen vorgestellt und prämiiert werden sollen.

Schule und Theater – geht das überhaupt? Heißt das nicht, künstlerischen Anspruch und Professionalität aufzugeben, ars (Kunst) der technae (dem Handwerk) zu opfern und die schier unausrottbaren, wie Wildkräuter sprießenden Schüler-Theater-AGs in Kauf zu nehmen, Laientheater, lähmende Darbietungen mit Hörspielcharakter, pubertierende Jugendliche, die selig sind, sich in der Rolle von Julia oder Romeo zu wissen, in der Gestaltung der Rolle aber nicht ahnend, wie heiß entbrannte Liebe gelebt und gezeigt werden kann, wie Leiden am Liebes-Unglück ohne Pathos – nein, pardon: ohne Pathetik – glaubhaft wird? Wo der Glaube vorherrscht, Theater spielen bedeute: auf die Bühne gehen und Texte sprechen.

Eine kunstbeflissene, artifizielle Sache ist das mit dem Theater in der Schule zunächst nicht. In der Schule ist das Schauspielen – wie Nadja Kirsten es in der ZEIT einmal genannt hat – ein „wohlgesinntes Trojanisches Pferd, voll gestopft mit einer Menge pädagogischer Ziele“ (DIE ZEIT, 08/2003). Das Theaterspielen geschieht in erster Linie nicht um seiner selbst willen, es wird funktionalisiert, instrumentalisiert:

– Der Deutschunterricht lebt davon, dass Schüler Rollentexte lesen, laut lesen, unbeholfen oder inbrünstig deklamieren, rezitieren, auswendig lernen und manchmal auch zu spielen versuchen. Das Spiel zwingt zur Auseinandersetzung mit dem Text, nur wer eine Interpretation einer Szene entworfen, Figuren charakterisiert und Beziehungen verstanden, Räume als ideale Orte oder als Kunst- oder naturalistische Räume zu sehen gelernt hat, kann auch Ideen für ihre Spielbarkeit entwickeln. Spielerische Umsetzungsversuche wiederum machen die Vieldeutigkeit von Rollentexten besonders klar und lassen verstehen, dass Regisseure mit jeder neuen Inszenierung z. B. eines „Nathan“ neue, zeitbezogene Deutungen der Figuren und der Handlung anbieten. Sie übersetzen und aktualisieren damit auch Dramentexte zurückliegender Epochen für unsere eigene Gegenwart. Spiel im Deutschunterricht kann so auch zum Transmissionsriemen für Sinn und Verstehen werden, und das nicht nur für Texte vergangener Epochen, sondern auch für dramatische Texte der Gegenwart; übrigens erweist sich das Erspielen von Texten auch als Verstehenschance nicht nur bei dramatischen, sondern auch bei epischen Texten. Ja, selbst Lyrik lässt sich manchmal ganz hervorragend verstehen, wenn man sie zu zeigen, zu spielen versucht.

– Der Fremdsprachenunterricht, selbst das Lateinische, nutzt das Rollenspiel zur Einübung grammatischer Regeln und zur Verfestigung idiomatischer Ausdrücke: Vokabeltraining durch Anwenden, Abklären möglicher Wortbedeutungen in Sprechkontexten, Spracherwerb in Konversationsgelegenheiten des Alltags, der Familie, des Einkaufs, der Schule, der Freundschaft – learning by doing.

– Auch in anderen Fächern gewinnt mitunter der Unterricht Theaterqualität, wenn Schülerinnen und Schüler in Physik oder Biologie die Attitüden großer Forscher annehmen und sich im weißen Kittel am Seziertisch oder bei der Protokollierung eines genialen Experimentablaufs wiederfinden – Kostümierung (und Schminke) eingeschlossen; oder wenn der Politikunterricht Entscheidungsvorgänge im Gemeinderat in groß angelegten Simulationsspielen nachempfindet; wenn in Chemie das Atrium von Explosionen nachhallend Echo gibt und Beifall und Johlen den Erfolg des Experiments bestätigen; wenn der Geschichtslehrer in seinem Erzählen von der Schlacht des Normannenherzogs William selbst zu einem Ritter im angreifenden Heer wird, auf den Stuhl steigt als besteige er sein Streitross und im Kampf die angelsächsischen Bauern unterwirft. Hier läuft Theater bisweilen zur Hochform auf.

Aber selten gibt es bei all dem auch einen ästhetischen Anspruch. Der greift erst auf dem ureigenen Feld jener Theaterarbeit, wie sie jenseits von funktionalisierendem Unterricht und Vormittagsveranstaltung in nachmittäglichen Arbeitsgemeinschaften, in Literaturkursen oder anderen selbst organisierten Spielformen und -gruppen geschieht und in jährlich stattfindenden Aufführungen mündet.

Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein.“ Nach einer dramatischen Nacht, in der Heinrich Faust in Goethes Stück starke Glücksgefühle, tiefe Niederlagen und selbstzerfressende Zweifel durchlebt, tritt er am nächsten Morgen ins Freie und hat seinen Auftritt unter dem Volk, das ihm zujubelt und applaudiert. Eine Theaterszene im doppelten Sinne. Theater im Theater sozusagen.

„Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein.“ – Das könnte auch die erlebte oder erinnerte Erfahrung von Schülerinnen und Schülern sein, die es zum Theaterspiel hin gezogen hat und die die Entstehung eines Stücks auf der Bühne aktiv mit vollzogen haben, von vorbereitenden Übungen über die Aufnahme der konkreten Probenarbeit bis hin zur Aufführung. Was macht das Theaterspiel für Schüler so attraktiv? Was gewinnen Schüler für sich, wenn sie sich die zusätzliche Zeit in der Schule antun, viel Arbeit auf sich nehmen und in der Regel eine Zeit des Stresses und der Konflikte durchstehen?

Für Schüler, die selbst ein Jahr lang oder länger in einer Theatergruppe mitgewirkt haben, stellt sich Kultur greifbar, erlebbar dar. Sie lernen Kultur und kulturelle Arbeit auf eine andere Weise kennen und verstehen als es der verkopfte Unterricht des Vormittags zu vermitteln vermag. Kultur wird zu einem aktiven Schaffensvorgang, in dem geistige, emotionale und körperliche Formen der Auseinandersetzung mit sich, den anderen und einer Sache, einem Thema zu einer Ebene ganzheitlicher Erfahrung führt. Theaterspiel ist ein fundamentaler Beitrag zur ästhetischen Erziehung.

Schüler lernen sich zu präsentieren, für sich g(e)rade zu stehen, sich zurückzunehmen, sie lernen Selbstbewusstsein aufzubauen und in Gruppen zusammenzuarbeiten. Sie lernen kreativ zu sein und etwas zu Ende zu bringen, durchzuhalten.

Gerade das Theaterspiel ist für die schulische und die Selbst-Erfahrung der Vierzehn- bis Neunzehn-Jährigen von elementarer Tragfähigkeit. Etwas zu gestalten wird als Erfahrung erlebt, die dem bloßen Konsumieren gegenüber erfüllender ist. Dabei eröffnet das Theaterspiel mit seinen vielen Wirkweisen vielfältige Gestaltungsmöglichkeiten in körperlicher, visueller, akustischer und taktiler Hinsicht. Theater ist von vornherein fächerübergreifend und Schüler erleben sich selbst und andere mit ihren unterschiedlichen Fähigkeiten und Ausdrucksseiten ganzheitlicher und persönlicher – als ganze Personen. Verblüffend ist immer wieder die Selbstverständlichkeit, mit der dies akzeptiert und gewürdigt wird.

Theaterarbeit ist selten von so sachlogischer Organisationsstruktur gekennzeichnet wie der Fachunterricht des Vormittags. Schüler erleben immer wieder Überraschendes, wenn sie sich einlassen, sich beteiligen, mit Leib und Seele, Herz und Hand dabei sind. Die aktive Beschäftigung mit Fragen der gestaltenden Interpretation schult die Wahrnehmung, macht sensibel für eigene Möglichkeiten und Fähigkeiten, öffnet andere Seh- und Denkweisen, erweitert den Horizont der eigenen Ausdrucksfähigkeiten und führt nicht selten zu ganz viel Heiterkeit. Das Theater fordert und fördert die Teamarbeit, die Bereitschaft zur Kooperation, zur Absprache und zur Bereitschaft, auch sich selbst viel abzuverlangen und trainiert damit das Durchhaltevermögen.

Theaterspiel ist mindestens auch ein Beitrag zur Persönlichkeitsentwicklung und zur Bildung von Identität. Es stellt deshalb gerade in jugendlichem Alter eine herausragende Möglichkeiten dar, unterschiedliche Optionen experimentell auszuprobieren, Handlungs- und Wirkmöglichkeiten zu erkunden, mit Angst und Beschämung umzugehen, Frustration und Glücksgefühle zu leben, zu durchleben und zu integrieren, mit realistischen oder auch überzogenen Ansprüchen an sich selbst Erfahrung zu sammeln.

Nicht zuletzt steht am Ende einer vielleicht langwierigen Probenzeit der Auftritt in der Öffentlichkeit, die Wahrnehmung der Publikumsreaktion, dessen Lachen und Heiterkeitsausbrüche schon gar nicht mehr einkalkuliert waren; die Rückmeldung stärkt, motiviert und aktiviert zu Neuem. Das gute Gefühl des Applauses ist stärker als eine Droge, es belohnt die Leistung als Ergebnis eines aufwendigen Prozesses der gemeinsamen Anstrengung. Selten kann man auch Schüler der gymnasialen Oberstufe so ausgelassen, nahezu kindlich beseelt erleben wie nach einer Premiere.

So öffnet sich der Vorhang und fällt wieder – nicht nur für eine mehr oder weniger gelungene Schüler-Aufführung, sondern für sehr viel Arbeit an sich selbst und mit anderen, und die schwerste Arbeit steckt oft in jenen Bildern, die so leicht aussehen, so spielerisch wirken, so schwebend zu Musik sich fügen oder so clownesk daher kommen.

Theater spielen heißt sehen lernen und in Bildern denken . Dramatische Texte sind solche, die für die Aufführung auf einer Bühne geschrieben sind. Sie bedürfen der Visualisierung, nicht des bloß akustischen Vortrags. Dass Schauspiele keine Hörspiele sind, ist eine der ersten und immer wieder herauf zu beschwörenden Einsichten in der Schauspielarbeit mit Schülern. Erziehung zum Sehen, sich Handlung als Abfolge von Bildern vorzustellen, eher auf Text zu verzichten und das Gesagte durch Bilder zu ersetzen, die den Sinn der Worte zeigen – dies ist eine der schwierigsten Basiseinsichten für – ach so oft wortverliebte – Schülerinnen und Schüler.

Schultheater ist immer finanzschwaches Theater. Lediglich dem Lehrertheater als schulbezogener Spielgruppe steht eine andere Finanzkraft zur Verfügung. Nicht euroschwere Investitionen und Subventionen kennzeichnen die Probenarbeit und die Aufführungen der Schülergruppen, sondern der Mangel an allem. So bleibt dem Schultheater nichts anderes, als aus dem Mangel eine Tugend zu machen. Statt aufwendiger Kulissen und Kostüme, statt der teuren Schminke müssen die Bilder aus dem leben, was die Spieler mit sich selbst in Bildern herstellen können. Denn die Körper sind ja da, mit denen sich manchmal gediegener als ein anderes Mal schöne Bebilderungen zaubern lassen. Fehlende Kulisse muss einfach durch ein Mehr an Spiel ersetzt werden. Und soweit Material notwenig ist, muss es kostengünstig erwerbbar sein: transparente Plastikfolien, wie man sie zuhause für die Abdeckung von Möbeln bei Renovierungsarbeiten benutzt, taugen dann als Nebelwände im „Sommernachtstraum“ oder als Verschleierungsinstrumente; Strohballen ersetzen den Heuschober in „Frühlings Erwachen“, einige freilaufende Hühner auf der Hinterbühne geben die Illusion eines Hühnerhofs bei „Romulus der Große“. Und immer wieder kommen gleiche Spielelemente zum Tragen: Stühle, weiße Quader, Einkaufswagen, Tücher. Auch Zuschauer sollen phantasieren dürfen.

Und das geschieht nun seit mehr als 25 Jahren . Die Prozesse sind jedes Mal so oder ähnlich. Mit jeder Gruppe beginnt die Arbeit zunächst als Arbeit mit den Körpern. Der Körper als Ausdrucksmittel wird in einer Reihe von Übungen erkundet: der Blick, die Hände, das Gehen, Tempo und Verlangsamung, Fortbewegung mit gestrecktem Körper, auf halber Höhe, bodennah. Kombinationen verschiedener Fortbewegungsmöglichkeiten und Ausdrucksformen in Paaren und größeren Gruppen fügen mehrere Menschen in neuen Bildern zusammen, machen aufmerksam für Zusammenspiel, für tragische und komische Wirkungen. Lange Zeit Arbeit ohne Sprache. Die kommt verfremdet ins Spiel: durch wilde Buchstabenfolgen, einzelne Sätze aus Tageszeitungen, das gesprochene Wort in verschiedenen Nuancen; der eine Satz, in verrückteste Situationen gestellt, bekommt metaphorische Qualität; Sprechen unter Anstrengung, bei körperlicher Belastung; Übungen im Flüstern, Schreien, Rufen, Bitten. Das gesprochene Wort im vorbereiteten Vortrag – Übungen im Vorsprechen, wie es die Schauspielschulen für alle Bewerber zur Angstnummer werden lassen.

Dann folgen Übungen zum Raum, zum Requisit: einen Stuhl als Mitspieler zu akzeptieren, ihn seinen Mitspielern vorzustellen, über die Persönlichkeit eines Stuhls den anderen etwas erzählen – hier kommen Einzelne tatsächlich an ihre Grenzen oder in die Nähe der Sinnfrage: was mach ich eigentlich hier? Übungen am Stock: wozu taugt ein Requisit, was kann ich mit Alltagsgegenständen alles zeigen, welche Bildqualität, welche Zeigedimension hat so ein banaler Gegenstand. Erfindungsreichtum, Kreativität, Befremdung und Gehemmtheit – all dies spielt eine Rolle, muss geübt oder überwunden werden. Und manchmal platzen Knoten serienweise und es explodiert in einer Gruppe die Spiellaune.

In neue Dimensionen der Spielkunst führen Spiele zu Musik, mit Masken und Kostümen, mit Schminke oder im Schwarzlicht. Oft reicht aber die Zeit nicht aus, um so verschiedene Spielzugänge zu öffnen, dann drängt der nahende Aufführungstermin nach einer Entscheidung über ein zu wählendes Stück. Ist die gefallen, beginnt ein konzentrierter Schaffens- und Aneignungsprozess; in oft rasant kurzer Zeit kommt ein Stück, eine Idee, ein Konglomerat aus selbst geschöpften Mosaikstücken zur Aufführung, einmal, zweimal – mehr ist bei der großen Aula oft nicht sinnvoll.

„Theater muss sein!“ Dies Theater müsste sein? Ja, ganz entschieden. Und zu diesem Theater muss man in der Schule auch niemanden verführen. Die Spielwilligen sind da, drängen herzu und werden nicht satt daran. Die so gemachte Theatererfahrung kann aber ihrerseits zu jenem großen Theater verführen, für das der Blick sich geöffnet hat. Nicht mehr vermag das Drumherum der Garderobe und des affektierten Gebarens zu stören, weil die Augen auf anderes zu achten und dies zu sehen gelernt haben und die Vorstellungskraft alles nur Angedeutete zu ergänzen vermag. Das Getu davor und danach wird schmunzelnd als fade Kulisse wahrgenommen. Schmierentheater.

Über all die Jahre hinweg sind so insgesamt 75 Aufführungen zustande gekommen (s. nachfolgende Übersicht), von denen in den darauf folgenden Beiträgen ehemalige Schülerinnen und Schüler Zeugnis ablegen, jeweils auf ihre eigene Weise und indem sie sehr persönliche Erfahrungen mit Schultheater und dessen (durchaus auch späte) Wirkungen formulieren.

Für die Offenheit und Herzlichkeit dieser Beiträge und für die oft schmeichelhaft überzogenen Formulierungen danke ich allen Mitwirkenden an dieser Stelle sehr herzlich.

Helmut Garritzmann